Erich Fromm: Haben oder Sein, Teil 2, 1/10

Über den Existenzmodus des Habens

Im Hauptteil des Werks „Haben oder Sein“ nimmt Fromm eine Analyse der grundlegenden Unterschiede zwischen den beiden Existenzweisen Haben und Sein vor.

Grundlage zu dieser Unterscheidung ist eine Gesellschaftsanalyse, deren Ausgangspunkt das Privateigentum (und damit zusammenhängend Profit und Macht) ist. Hier sieht Fromm den Kern des Haben-Modus in der modernen Gesellschaft. Das Wort Privat von lat. privare = berauben, schließt Andere vom Besitz und Gebrauch des Eigenen aus. In patriarchalen Gesellschaftsstrukturen gehören dazu auch Menschen, beispielsweise Frauen und Kinder. Diese werden zu Dingen reduziert, zum Besitz speziell des Mannes. Was sich aber bereits hier ankündigt, ist die Tatsache, dass nur Dinge besessen werden können und Menschen de facto keine Dinge, sondern Lebewesen sind. Das erste Spannungsfeld des Haben-Modus und seiner Tradition wird skizziert. Nützlich für das Verständnis ist hier die Metapher des „Be-sitzen“ im Sinne des „darauf herumsitzen“, „es belagern“.

Fromm zufolge sei der Individualismus nicht gleich die Befreiung gesellschaftlicher Fesseln. Individualismus zeige sich in der modernen Gesellschaft vor allem durch Erfolgsstreben und v. a. durch den Selbstbesitz. Das Selbst ist der wichtigste Besitz für das Individuum überhaupt: Man besitzt Körper, Name, sozialen Status, Besitztümer, Wissen, Selbstbild, „Image“, etc. Das eigene Ich wird als Ding empfunden. Gleichzeitig leben wir in einer Wegwerfgesellschaft und im Automobilzeitalter: Früher wurde gehortet und so lange wie möglich behalten und bewahrt. Heute wird weggeworfen oder weitervermarktet, was vor allem den Automobilmarkt betrifft, zu denken ist hierbei z. B. an den Gebrauchtwagen- und Gebrauchtwarenhandel. Es herrscht also eine starke Habenorientierung damals wie heute: Der persönliche und individuelle Status wird durch Besitz bestimmt. Nur die Art und Weise der Verfügung über den Besitz verändert sich.

Das „Haben“ ist keine lebendige Beziehung zwischen Subjekt und Objekt, sondern eine tote. Fromm verwendet hierfür den Begriff der Nekrophilie. Die Liebe zum Toten ist aber trügerisch, da der Mensch den Tod selbst, den eigenen und auch den Tod nahestehender Personen nicht lieben kann. Man kann nicht beständig besitzen, da jeder Mensch sterben muss und nichts von seinem Besitz in Jenseits mitnehmen kann. Vor allem wenn davon die Rede ist einen Menschen zu besitzen, erkennt man den Widerspruch dieser Rede darin, dass ein Mensch ein lebendiges Lebewesen ist und keine unbelebte, tote Sache und dass man Lebendiges schlichtweg nicht besitzen kann, da es uns der Tod nehmen kann. Es also keine Garantie für diesen vermeidlichen Besitz gibt.

Der Einfluss des Habens bzw. der Nekrophilie wird im Sprachgebrauch deutlich: Aussagen wie „Ich habe ein Problem.“, „Ich habe eine Krankheit.“ unterscheiden sich von Aussagen wie „Ich bin besorgt.“, „Ich bin krank.“ Oder gar von Aussagen, die sich bereits mit einem aktiven Prozess befassen: „Ich arbeite an mir.“, „Ich möchte gesund werden.“ Die Ausdrucksweise gerät immer mehr in das Feld der Unmündigkeit und Ohnmacht. „Ich habe etwas, das ich loswerden will.“ und damit „Hat es mich“, weil mein Selbst davon abhängig geworden ist und weil ich mich nicht in der Lage sehe, das Unerwünschte aus eigener Kraft zu beseitigen. Ich benötige externe Hilfe dazu, einen Arzt oder Therapeuten, der das von mir nimmt, das nicht zu mir gehören soll, ich aber unter Umständen selbst geschaffen habe, ohne es zu merken. Ich mache mich abhängig von Besitz und toten Dingen, die mir dann Probleme bereiten, deren Ursache und Verantwortlichkeit aber von mir woanders als in mir selbst gesucht werden. Dieses (Selbst-)Verhältnis ist analog zum Wegwerf- und Marketingcharakter: Man kann sich alles aneignen und es wieder von sich weisen. Es stellt sich die Frage, inwiefern man dann noch von einem vollkommenen freien Willen sprechen kann? Ein solcher wird vorgegaukelt durch Manipulations-, Kontroll- und Unterdrückungsmechanismen, z. B. durch die Unterdrückung des Sexualtriebs oder Massensuggestion. Die Triebe wollen kompensiert werden, was vor allem durch Besitzen geschieht.

Weitere Faktoren des Haben-Modus zeigen sich

– im Wunsch nach Unsterblichkeit: Besitzen kann man nur, was nicht vom Tod bedroht ist, so die Illusion, daher wird ein möglichst langes Leben angestrebt und der Wunsch, etwas zu hinterlassen.

– im analen (hortendem) Charakter, d. h. in der Besitzorientierung, welche vor der geistigen Reife ausgebildet wird. Ein solches Symptom kann pathogen werden.

– in Askese und Gleichheit, die nur vermeidliche Alternativen zum Haben-Modus darstellen, da sie letztendlich nur auf das Ego abzielen.

– in der Unterscheidung von funktionellem bzw. existentiellem Haben zur Befriedigung der Grundbedürfnisse, welches nicht im Konflikt steht mit dem Seins-Modus im Gegensatz zum charakterbedingten Haben.

Haben-wollen ist anerzogen und unterliegt kulturellen Bedingungen. Da es sich auf Dinge bezieht, neigt man dazu das zu wollende zu Verdinglichen, z. B. durch die Sprache. Sie macht es möglich den Bereich des Habens bereits gedanklich zu vergrößern. Hierbei verdinglicht das Subjekt andere Menschen sowie sich selbst.


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