Erich Fromm: Haben oder Sein, Teil 2, 2/10

Über den Existenzmodus des Seins – Sein als Aktivität

Wie gestaltet sich die existenzweise des Seins? Sein bezieht sich auf Erlebnisse, Erfahrungen, produktives Denken. Es ist weitaus abstrakter zu beschreiben als das Haben, da dieses sich auf Materielles bezieht. Die Existenzweise des Seins bzw. der Seins-Modus zeigt sich in der Einstellung, Haltung und im autonomen Charakter des Individuums. Es bezieht sich auf das eigentliche Menschsein, das nicht durch Besitzzuschreibungen definiert werden kann. Nur die Persona, die Maske des Menschen (seine Selbstdefinition), ist zunächst beschreibbar, weil sie den Menschen zum Ding/Objekt macht. Das Innere wird dabei nicht berührt. Das Sein beschreibt die Beziehungen zwischen den Menschen als prozesshaft und nicht als von Besitzverhältnissen bestimmt. Gemeint sind hier also zwischenmenschliche Bereiche des Zusammenlebens z. B. der Prozess des lebendigen Aufeinander-Bezogenseins und das intrapersonelle Verhältnis, welches ein Individuum zu sich selbst hat. Dieses Sein kann nicht ohne weiteres mit Hilfe einer reinen Objektsprache beschrieben werden. Es ist im Grunde außersprachlich. Trotzdem kann über die und in der Existenzweise des Seins gesprochen werden. Die Gefahr in einem sprachlichen Haben-Modus zu gleiten ist jedoch sehr groß. Die Rede vom Haben ist uns gängiger, da es eine Rede von dem ist, worauf wir uns außerhalb von uns beziehen. Dieses Verhältnis deutet aber bereits an, dass wir Schwierigkeiten haben, uns auf uns selbst zu beziehen. Dieser fehlende Selbstbezug wird dann mit einem Selbstbesitz kompensiert wie er bereits beschrieben wurde. Voraussetzungen für Existenzweise des Seins ist Unabhängigkeit, Freiheit und kritische Vernunft.

Wichtigstes Merkmal ist die Aktivität als inneres Tätigsein. Egozentrik, Selbstsucht und das Zwangskorsett des Selbstbesitzes müssten aufgegeben werden. In der Existenzweise des Seins ist das Werden des Individuums im Fokus. Egoismus und Selbstbesitz sind Determinationen auf äußere Gegebenheiten. Das Individuum orientiert das, was es ist nicht an seinem Inneren, seinem Charakter, sondern es orientiert seinen Charakter an dem, was es hat und zu was es sich damit machen kann. Viele begehen den Irrtum: Ohne Haben kein Sein, bzw. „Du bist, was du hast.“ Der Begriff des Seins wird aber nicht verständlich, indem man annimmt, durch ein Nichthaben gelange man automatisch in den Seins-Modus. Die Existenzweise des Seins ist zunächst bezogen auf das Tätigsein generell. Es ist in der Lebenswelt oft schwer zu etablieren, da Tätigsein nicht immer möglich ist, sie sich mit Passivität abgewechselt, bzw. nicht reflektiert wird und so zu bloßer Geschäftigkeit verkommt.

Der Begriff des Seins versteht sich über die Begriffe Aktivität und Passivität. Aktivität im modernen Sinn beschreibt Geschäftigkeit:

„[…] ist allgemein gesprochen gesellschaftlich anerkanntes, zweckhaftes Verhalten, das entsprechende gesellschaftliche nützliche Veränderungen bewirkt.“[1]

Es handelt sich um ein Verhalten, abgetrennt von der ausführenden Person. D. h. wer man ist, spielt keine Rolle, nur, dass man etwas gesamtgesellschaftlich Nützliches tut. Die Hintergründe des Verhaltens und Handeln etwa Intentionen oder auch Zwänge spielen ebenfalls keine Rolle. Geschäftigkeit und Tätigsein sind Aktivitäten, aber nicht dieselben. Ihr Unterschied ist analog zu dem zwischen entfremdeter und nicht entfremdeter Tätigkeit. In der entfremdeten Aktivität erfährt das Ich nur das Resultat der Tätigkeit. Das ist auf den ersten Blick der poiesis bei Aristoteles ähnlich, bei der sich das Handeln auf das Werk richtet und nicht auf den Vollzug des Handelns. Die entfremdete Tätigkeit erzeugt aber in weiterer Instanz eine Abtrennung zum Werk, sodass der Eindruck des fremdbestimmten Handelns entsteht. Man weiß nicht mehr, warum man etwas überhaupt tut. Eine pathologische Ausformung dieses Phänomens der Entfremdung ist die Zwangsneurose. Entfremdete Aktivität ist in Wirklichkeit Passivitätund damit Unproduktivität. Nicht entfremdete Aktivität ist produktives Tätigsein. Es zeichnet sich dadurch aus, dass das handelnde Subjekt sich selbst in der Tätigkeit erlebt und die Beziehung zu Produkt bzw. zum Werk aufrechterhalten bleibt. Die Aktivität und auch das Produkt sind Manifestationen der eigenen Kräfte und Fähigkeiten.

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Aber: Die Beschreibung der nicht entfremdeten Tätigkeit ist jetzt noch recht schwammig. Woran erkennt man, dass man sich selbst beim Tätigsein erlebt? Was für Tätigkeiten sind das, in denen man sich selbst so erlebt? Ist es möglich, dass sogar dieses Tätigsein-Erlebnis von den modernen Produktionsmechanismen vorgegaukelt werden kann und die Illusion von erlebtem, freien Tätigsein erzeugt werden kann, die dann aber in Wirklichkeit keine ist – ohne, dass wir es merken? Produktiv bezieht sich auf qualitativ.

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Produktives Tätigsein muss nicht notwendigerweise etwas hervorbringen. Es handelt sich vielmehr um eine Charakter-Orientierung, die von einer gewissen Qualität ist, möglicherweise in Sinne einer modernen Tugend? Die Frage wäre nur, was für eine das sein könnte. Fromm selbst verwendet den Begriff der Tugend nicht. Passivität kann auch Nichtgeschäftigkeit im Sinne nicht entfremdeter Aktivität sein. Dies könnte etwa sein, dass man meditiert, um das eigene Selbstverhältnis zu stärken.

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[1] Fromm, Erich: Haben oder Sein. Die seelischen Grundlagen einer neuen Gesellschaft. Übers. von Brigitte Stein. Überarb. von Rainer Funk. 23. Aufl. (2004), Deutscher Taschenbuch Verlag, München 1979. (Orig.: To Have or to Be? (1976)), S. 90.

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