Freundschaft und Einsamkeit bei Ernst Bloch

„Die Menschen werden seit je allein geboren und sterben allein.“[1]

Bloch stellt im fünften Teil seines Buches Das Prinzip Hoffnung einen Zusammenhang zwischen Freundschaft und Einsamkeit her. Einsamkeit sei ein sozialer Zustand, denn sie finde nicht außerhalb von Gesellschaft statt, sondern in ihr: „Meiden, Isolieren, Lösen sind ebenso soziale Akte wie Binden und Vereinigen; […].“[2] So gebe es ohne Gesellschaft keine Einsamkeit und ohne Einsamkeit keine Individuen in der Gesellschaft. Diese Wechselwirkung, bezeichnet Bloch als „Doppellicht“.

Freundschaft – eine Reaktion auf Einsamkeit

Einsamkeit komme, Bloch zufolge, in zwei Formen vor:

– Erstens als Qual, d. h. als ungewollte Einsamkeit, als Zwang, als ein Nicht-können oder Nicht-dürfen, aber auch als Verlassenheit oder als Gefangenschaft, z. B. in einer Gefängniszelle. Einsamkeit kann also Elend bedeuten.

– Zweitens als Wunschbild, d. h. als gewollte Einsamkeit des Ichs, als Narzissmus oder als Wunsch nach Störungslosigkeit, z. B. in einer Klosterzelle. Die gewollte Einsamkeit ist ein Wunsch des Ichs bzw. des Egos. Es benötigt sie für sein Selbstverhältnis, also für eine Auseinandersetzung mit sich selbst.

Bloch stellt heraus, dass es in der Menschheitsgeschichte neben der Vergesellschaftung auch eine Kulturgeschichte der Einsamkeit gibt.[3] So lassen sich augenscheinlich unterschiedliche Motive für die gewollte Einsamkeit auffinden: Christliche Innerlichkeit, Weltflucht oder Flucht vor sich selbst. Die vielfältigen Erscheinungsformen des Wunschbildes Einsamkeit lassen nicht unmittelbar einen Schluss auf das tatsächliche Motiv der Einsamkeit zu. Bloch zufolge offenbare sich aber beispielweise das christlich-narzisstische Wunschbild nach Einsamkeit letztlich als Egoismus.[4]

Bloch sieht die Einsamkeit im 20. Jahrhundert vor allem als etwas, das sich der Kapitalismus zum Instrument gemacht habe. In ihm werde das Wunschbild der Einsamkeit durch den Egoismus in der Gesellschaft auf die Spitze getrieben. Es sei übertrieben worden, ähnlich der Idee des Individuums.[5] Diese Zuspitzung zeigt sich darin, dass sie dem Kapitalismus von Vorteil ist, wenn wir einsam und egoistisch sind, da wir dann eher dazu neigen, zu konsumieren.

Schon der Ansatz ist paradox: erst suchen wir die Einsamkeit, die Isolation, das Alleine-leben, dann müssen wir uns vor lauter Überdruss wieder davon befreien. Bloch spricht hier vom „wirtschaftliche[n] Atom-Pathos“[6]. Blochs Kapitalismuskritik zielt darauf ab, zu zeigen, dass wir durch das Konsumieren und die systematisch erzeugte Einsamkeit, d. i. die Privatheit und der Rückzug dorthin, mehr unseren Eigentumsinteressen nachgehen und weniger kommunizieren, d. h. auch, weniger mit der Öffentlichkeit zu tun haben. Das geht soweit, dass auch unsere zwischenmenschlichen Beziehungen letztlich vermarktet oder durch Konsum kompensiert werden sollen. Bloch plädiert nun aber, dass der Mensch im Kapitalismus nicht zu sich und generell keine Heimat findet, d. h. wir müssten uns wieder aus der systematischen Einsamkeit befreien. Eine Flucht aus dieser systematischen Einsamkeit ist die Freundschaft.

„Alle Kinder werden allein geboren, aber stets miteinander groß.“[7]

Die Einsamkeit stehe der Gesellschaft nicht konträr gegenüber, sondern verhalte sich zu ihr komplementär.[8] Für Bloch befindet sich der Einzelne in einem Spannungsfeld zwischen dem eigenen Leib-Ich und der Gemeinschaft, in die er hineingeboren wurde. Er sei einerseits auf die Gemeinschaft angewiesen, andererseits neige er zur Einsamkeit:

„Gerade die frühsten Menschen lebten gesellig, machten eine Gruppe aus. Der Einzelne war hier der Ausgestoßene, das bedeutet in einer Zeit vollkommener Wildnis: der Untergehende. Der Stamm war der Halt des Leibes, der Inhalt des schwach entwickelten Ichs. Folglich steht zwar am organischen Anfang ein auf sich bezogenes Leib-Ich, aber am geschichtlichen Anfang steht die Gemeinschaft. Und zu ihr gehen in Zeiten, wo sie bedroht ist, ebenso heiße Wünsche wie zur Einsamkeit. Wünsche der Geborgenheit, die dann nicht einmal im Widerspruch zur Einsamkeit zu stehen braucht, sondern sie einbezieht, mindestens in den kleinen warmen Kreis von Freundschaft.“[9]

In der modernen Zeit, in der es sich der Mensch erlauben kann, ein Einzelner zu sein, muss das Leib-Ich nicht mehr von der Gesellschaft bewahrt werden und das Ich kann sich in kleinen Gesellschaftskreisen entwickeln. Es ist also ein selbstständigeres und selbstbestimmteres Ich im Vergleich zum schwachen Ich der frühen Menschheit. Bloch betont aber auch, dass der Einzelne das, was er nicht hat, ersehnt:

„Wo die Gesellschaft zweifelhaft geworden ist, tauchte gleichzeitig mit dem Wunschbild Einsamkeit das der Freundschaft auf: nicht als Flucht, sondern als Ersatz der Gesellschaft […].“[10]

Die Gesellschaft wird dann für uns zweifelhaft, wenn sie sich zum Beispiel rasant verändert oder wir Überforderung durch ihre Komplexität spüren. Wenn die Gesellschaft für uns fraglich oder instabil wird, regt sich der Wunsch des Einzelnen nach Freundschaft – d. h. nach so etwas wie einer neuen oder anderen Vergesellschaftung. In einem solchen Veränderungsvorgang verändert und entwickelt sich auch das Individuum weiter. Somit steht Einsamkeit und Freundschaft als Form einer Ersatzgesellschaft in Wechselwirkung:

„Allerdings hängt auch das Lob der Einsamkeit nicht nur vom Habitus des Menschen ab, der etwas mit ihr anzufangen weiß, sondern ebenso wieder vom Zustand der Sozialwelt, innerhalb dessen der Einsame gedeiht.“[11]

Zusammenfassend lässt sich feststellen: In der Gesellschaft ist Platz für die Entfaltung des Individuums, weil sie das Private ermöglicht und damit auch Einsamkeit zulässt. Diese Einsamkeit kann in Kontemplation ausgelebt werden oder aber in den privaten freundschaftlichen Sphären, die innerhalb der Gesellschaft und parallel zur Gesellschaft entstehen und existieren. Einsamkeit ist also nötig, damit das Individuum sich einerseits entfalten, andererseits reflektieren und damit auch immer wieder neu an der Gesellschaft mitgestalten kann. Freundschaft dient hier als Ausweich- oder Schutzraum, in welchem Geborgenheit durch Freundschaft gegeben ist – der Einzelne also nicht, wie in früheren Zeiten, sich selbst überlassen bleibt. Freundschaft kann als Ersatzgesellschaft gedacht werden: Sie dient vor allem dem Individuum. Diesem werde ermöglicht, sich weiterentwickeln, zu sich zu finden und eine innere Heimat zu finden, aber dann ausgehend von dieser auch in der Welt Geborgenheit und Heimat – die aber stets Utopie bleibt – zu finden. Was im Kleinen stattfindet, kann auf das Große übertragen werden. Damit bezieht sich Bloch auch explizit auf Aristoteles: „aus dem Ideal des kleinen Kollektivs [wird] sogar der Kitt des großen gezogen […].“[12] Denn für Aristoteles ist Freundschaft und Eintracht u. a. eine notwendige Bedingung für eine funktionierende Gesellschaft.

Das Doppellicht der Einsamkeit – Ohne Gesellschaft keine Einsamkeit und ohne Einsamkeit keine Individuen

Bloch ist Vertreter einer Philosophie des Noch-nicht-geworden-seins bzw. der konkreten Utopie, welche bei ihm die Hoffnung ist. Diese steht im Gegensatz zur abstrakten Utopie, dem bloßen Optimismus und besonders im Gegensatz zum bloßen Ökonomismus, welcher für ihn Pessimismus impliziert. Sowohl das Traumbild Einsamkeit, als auch die Freundschaft stellt er als soziale Zustände dar, deren Wesen noch bevorsteht, oder denen noch viel Arbeit bevorsteht[13], die folglich utopisch sind. Es handelt sich also um Ideen, die noch unvollkommen sind, an denen noch gearbeitet werden kann, welche den Menschen also noch weiter beschäftigen werden und von denen aber letztlich auch nicht zu erwarten ist, dass sie zu einem Ende kommen werden.

Ausgehend von der Einsamkeit, die wie die Freundschaft ein sozialer Zustand ist, und welche beide aufgrund der inneren und äußeren Existenzweise des Individuums miteinander einhergehen, stellt Bloch Freundschaft in zweierlei Hinsicht vor: 1. als Ersatz der Gemeinschaft ist die individualistische Freundschaft (im Sinne der privaten Freundschaft) ein Hort der Geborgenheit und Heimat, 2. als Kapitalismus-Flucht, da dieser uns systematisch einsam mache und uns seine Produkte zur Kompensation der Einsamkeit aufnötige. Damit leugne der Kapitalismus die eigentliche Bedeutung der Freundschaft in der Gesellschaft:

„Der Bezug aufs Ego ist allemal durch den Bezug auf die Gesellschaft bestimmt; ohne diese gäbe es kein Alleinsein […].“[14]

Freundschaft unterscheidet sich von Gesellschaft insofern, als dass sie intimer ist. Sie ist wie ein Schutzraum zwischen Einsamkeit einerseits und Gesellschaft, in der es keinen privaten Raum zu geben scheint, andererseits. Dass Freundschaft aber Kompensationen einer mangelhaften, sich verändernden Gesellschaft sei, ist für Bloch nicht nur die eigentliche Bestimmung des Begriffs der Freundschaft. Das Wunschbild der Einsamkeit sei zwar für das Individuum omnipräsent, es sei aber nur eine temporäre Ausflucht. Für Bloch steht hier das Motiv der Utopie im Vordergrund. Der Mensch könne niemals nur in der Einsamkeit sein und niemals nur in der Gesellschaft. Auch die vollkommene Flucht in die Innerlichkeit als Weltflucht oder Flucht vor sich selbst, könne nicht gelingen, da der Mensch auf diesem Wege nicht Eins werden kann. Dies könne nur durch eine Wechselbeziehung zwischen dem Subjekt-Ich und der Objekt-Welt geschehen.

Insofern ist es für Bloch gerade angesichts des Kapitalismus wichtig, an die ursprüngliche Bedeutung der Freundschaft zu erinnern, welche er bei Aristoteles findet. Gerade in der Freundschaft, wie sie Aristoteles vorstellt, zeige sich das Menschliche des zoon politikon und letztlich auch die soziale Vollendung.[15] Diese Vollendung sei aber ein Idealbild. Bloch bezeichnet die wesentlichen sozialen Elemente in der Freundschaftskonzeption des Aristoteles, Wohlwollen, Eintracht, gutes Tun als utopisch und spricht daher von der Aristotelischen Utopie:

„Was die Gerechtigkeit nun fordert, das leistet ohne Zwang die Freundschaft; sie bewirkt die Eintracht, worin eine Verletzung der gegenseitigen Rechte nicht mehr vorkommt, also selbst zum Gedanken an Gerechtigkeit keinen Anlass mehr ist.[16] Wieder, wie bei dem Grundsatz des inter amico omnia communia[17], läuft also Aristotelische Utopie in den Freundschaftszirkeln vor dem Staat; […]. Die drei Betätigungen, die Aristoteles der Freundschaft zuschrieb: Wohlwollen, Eintracht, Wohltun, machten sie besonders deutlich utopisch; […].“[18]

Das utopische Moment der Freundschaft trete besonders dann hervor, wenn eine Freundschaft von mehr als zwei Individuen vorzufinden sei.[19] Denn hier, bei einem Freundschaftsbund etwa, stelle sich zurecht die Frage, wie die Gerechtigkeit sich idealerweise in der Freundschaft auflöst. Aristoteles behauptet nur, dass es so sei, aber nicht wieso oder wie es im konkreten vorkommt. Im weiteren Verlauf der Freundschaftsbücher in der Nikomachischen Ethik thematisiert er ja auch die gerechte Behandlung des Freundes nach der Würdigkeit und das gerechte gegenseitige Geben und Nehmen. Insofern handelt es sich um ein Ideal, bzw. für Bloch um eine Utopie – ein Zustand oder Ort, der noch nicht erreicht wurde. Bloch merkt an, dass dieses Ideal, welches als Grundlage für den Staat dienen soll, als „Freundschaftstraum in allen anarchischen und in föderativen Utopien“ vorkomme, sich in „[…] Akten gegenseitiger Hilfe“, in kleinen, selbstverwalteten und gewaltlosen Gemeinden und in ersehnten Brudergefühlen zeige.[20] All diese Wünsche und Gesten, in denen sich dieses Ideal zeige, werden durch den Egoismus im Kapitalismus verdrängt. Auch Aristoteles betonte bereits, dass die Schlechten, die Egoistischen, die weniger Tugendhaften auch weniger zur Freundschaft neigen.

„[D]as gesellschaftlich ausgeweitete Traumbild Freundschaft bleibt im kapitalistischen System zwar von ferne leuchtend, doch weniger als irgendwo wirksam. Konnte Aristoteles noch die Gruppe der Sklavenhalter[21], welche die antike Polis ausmachten, in Freundschaft versammeln lassen, mit gegenseitigem Wohlwollen zwischen sich als hohem, doch keineswegs durchkreuztem oder seltenem Ideal, so ist das kapitalistische Kollektiv, wenn es sich so nennen läßt, nur noch homo homini lupus, Kampf der Monopole zuletzt. Das wurde dermaßen Betrieb und Mechanei dazu, daß die Freundschaft nicht einmal mehr einen Ersatz darstellt, sondern fast wie die Einsamkeit eine Flucht.“[22]

Im Kapitalismus soll der Mensch auf bestimmte Ideen festgelegt werden und sein Verhalten und sogar sein Fühlen berechenbar sein. Dem gegenüber steht die Utopie: die Hoffnung auf Veränderung und Erneuerung. Dies bedeutet aber Vollzug und Prozesshaftigkeit. Bloch weist auf dieses Spannungsfeld hin und die von ihm gepriesene Utopie erscheint noch ferner, durch seine Darstellung eines überbordenden Kapitalismus. Dennoch und das zeigt die Abhandlung über das Doppellicht von Freundschaft und Einsamkeit ist der Wunsch nach Freundschaft nach wie vor existent[23], im Wesen des Menschen verankert und die Utopie dadurch auch noch lebendig, solange der Mensch hofft.

Freundschaft ist mit Bloch etwas, das stets noch-nicht-ist, was aber stets Erneuerung verspricht und auf die Zukunft hinweist. Um sie zu begreifen, bedarf es aber, das zeigt Bloch an mehreren Stellen des Textes, der Vergangenheit. Indem die Vergangenheit auf die Zukunft hin gedacht wird, erkennen wir erst das Noch-Nicht und können uns zu einem Nochmal entschließen. Eine jede Freundschaft hält also den Geist der Utopie und die aristotelische Idealvorstellung einer einträchtigen Gesellschaft zukunftsorientiert aufrecht.


[1] Bloch, Ernst: Das Prinzip Hoffnung. In drei Bänden. 3. Band, Kapitel 43-55. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1959/69. [Fortan zitiert als: Bloch: DPH. S. XXXX.]. S. 1125.

[2] Bloch: DPH. S. 1125.

[3] Vgl. Bloch: DPH. S. 1126.

[4] Vgl. Bloch: DPH. S. 1128.

[5] Vgl. Bloch: DPH. S. 1129.

[6] Bloch: DPH. S. 1127.

[7] Bloch: DPH. S. 1129.

[8] Vgl. Bloch: DPH. S. 1133.

[9] Bloch: DPH. S. 1129.

[10] Bloch: DPH. S. 1130.

[11] Bloch: DPH. S. 1127.

[12] Bloch: DPH. S. 1131.

[13] Vgl. Bloch: DPH. S. 1129 und S. 1134.

[14] Bloch: DPH. S. 1125.

[15] Vgl. Bloch: DPH. S. 1130 f.

[16] Hier bezieht sich Bloch auf: Aristoteles: EN. 1155 a, 24-28; S. 252.

[17] „Freunden ist alles gemeinsam“. Vgl. Bloch: DPH. S. 1130.

[18] Bloch: DPH. S. 1131.

[19] Vgl. Bloch: DPH. ebd.

[20] Bloch: DPH. S. 1131 und vgl. S. 1131f.

[21] Bloch sah durchaus die lebensweltliche Wirklichkeit, auf der die antiken Ideen fußten. Somit kann man ihm nicht vorwerfen, er befürworte das aristotelische Gedankengut nur.

[22] Bloch: DPH. S. 1133.

[23] Vgl. Bloch: DPH. S. 1132.

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