Erich Fromm: Haben oder Sein, Teil 2, 4/10

Haben und Sein als Möglichkeiten der menschlichen Natur

Fromms Argument entgegen dem Vorurteil, das Haben sei in der Natur des Menschen verankert

Es gibt das Vorurteil, dass die Existenzweise des Habens in der Natur des Menschen liege und das Dogma, dass der Mensch von Natur aus faul, egoistisch und passiv sei. Beide Existenzweisen, die des Habens und die des Seins, sind aber Möglichkeiten der menschlichen Natur und keine Notwendigkeiten. Die Existenzweise des Habens scheint dem biologischen Selbsterhaltungstrieb eher zu entsprechen. Die menschliche Kultur besteht aber nicht nur aus Fressen oder gefressen werden. Abraham Maslow unterscheidet physische von psychischen Bedürfnissen und hierarchisiert diese zu einer Bedürfnispyramide deren Basis die notwendige Bedingung für die weiteren Schichten und deren Spitze darstellt. Basisbedürfnisse sind physische Bedürfnisse (z B. Essen, Trinken, Schlafen, Sicherheit). Sind diese nicht befriedigt, so kann auch kein weiteres (psychisches) Bedürfnis befriedigt werden. Fromm unterscheidet daher zwischen einem existentiellen Haben, welches hilft die physischen Grundbedürfnisse des Menschen zu befriedigen von einem charakterbedingten Haben, das bezogen auf ein Existenzminimum aus unnötigem Überfluss besteht und letztlich den Charakter negativ prägt.

Der Mensch hat ein ausgeprägtes Verlangen zu sein, was die Theorie von Maslow ebenfalls zeigt. Sobald der Mensch satt und sicher ist, ist er bestrebt, sein soziales und geistiges Dasein zu gestalten. Dies ist die Basis wiederum jeder Kultur. Um das Argument des naturgegebenen Egoismus zu entkräften zieht Fromm eine These von D. O. Hebbs heran, die besagt, dass das einzige Verhaltensproblem in der Erklärung von Inaktivität zu finden sei, und fügt diesem eine Reihe von Beispielen an. Diese geben Hinweise darauf, dass es intrinsische Motivationen gibt und sich die Beweggründe von Lebewesen nicht nur auf ihre eigenen Vorteile beziehen und vor allem auf Aktivität beruhen:

1. Sogar bei Tieren sind Verhaltensweisen zu beobachten, die zeigen, dass sie etwas tun, ohne auf Belohnung zu hoffen,

2. Es gibt neurophysiologische Experimente zu diesem Thema, die von Fromm aber leider nicht weiter erläutert werden,

3. Frühkindliches Verhalten zeigt eine Neigung auf komplexe Reize zu reagieren,

4. Die Lernpsychologie zeigt, dass Motivation immer da ist, aber geweckt werden muss,

5. Ein Recht auf Mitbestimmung, z. B. am Arbeitsplatz, motiviert Personen dazu, sich von selbst engagierter mit den Arbeitsprozessen auseinanderzusetzen,

6. Opfer bringen ist ein menschliches Bedürfnis, wie einige Phänomene wie Mitleid, Mildtätigkeit, Barmherzigkeit, Caritas usw. zeigen.

Es gibt also Hinweise darauf, dass der Mensch von sich aus Geben, Helfen und Teilen möchte. Es gibt sogar entsprechende Berufe und Berufungen wie Krankenschwester, Arzt, Nonne oder Mönch, die das sehr deutlich machen. Jedoch ist auch hierbei ein Abdriften in ein Extrem möglich, dass dann genau das Gegenteil hervorbringt: Da aus einem Überfluss des Habens bald auch ein Verlangen nach Sein entspringen kann,  dieses aber nie gelernt worden ist, neigen manche Menschen dazu, ihr Leben einer Idee zu opfern oder sich der wahllosen Zerstörung hinzugeben (z. B. Fundamentalismus). Diese Menschen sind verzweifelt und nicht zur (Selbst)Liebe fähig. Sie sind Angeklagte und Ankläger der Gesellschaft zugleich. Der Mensch hat ein Bedürfnis nach Einssein mit Anderen (Anerkennung und Zugehörigkeit) und mit der Natur oder einer höheren Macht. Diese Bedürfnisse können in Hysterie und Wahn münden, müssen es aber nicht. Ein starker Gegenbegriff bezüglich dieser extremen Auswüchse ist die Solidarität. Die Art und Weise, wie eine Gesellschaft Einheit und Solidarität fördert oder fördern kann, bestimmt darüber, ob eine Neigung zum Sein oder zum Haben in den Menschen erwächst. Haben und Sein sind Potentiale über deren Kultivierung wir selbst entscheiden sowohl auf der Mikro- als auch auf der Makroebene. Welche Potentiale sich in einem Individuum ausbilden, wird zunächst von der sozialen Umwelt geprägt. Das psychologische Dogma von der irreversiblen Charakter- und Persönlichkeitsentwicklung aus der Kindheit weist Fromm jedoch zurück. Jede Person ist in die Lage, sein Denken und Leben zu ändern und in einen an den eigenen Maßstäben gemessenen positiven Zustand zu wenden.


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