Erich Fromm: Haben oder Sein, Teil 1, 3/3

Haben und Sein im Alten Testament (AT), im Neuen Testament (NT) und in der Mystik Meister Eckharts.

Das Motto des AT lautet: „Verlasse, Befreie, Sei!“ und der Held des Alten Testaments ist Abraham. Er verlässt sein Land, um für immer in ein neues Land zu ziehen. Er begiebt sich auf eine Reise ohne Wiederkehr. Ein Festhalten am Hab und Gut ist hierbei ausgeschlossen. Ein anderer Held des AT ist Moses. Er flieht aus Ägypten und den dortigen Herrschaftsverhältnisse in die Wüste. Diese gilt als Symbol der Freiheit. Das einzige worauf sich beide Helden beziehen ist das funktionale Haben. Deren Nachkommen wiederum suchen sich Götzen, da sie mit dem Nicht-Haben nicht zurechtkommen. Der funktionale Besitz reicht Ihnen nicht aus, sie haben Sehnsucht nach Eigentum. Diese beiden Geschichten sowie der Sieg der Römer über die Juden zeigen den Verlust allen Besitzes der Juden. Hieraus bildet sich das Ideal des Seins. Am wirkmächtigen zeigt sich dieses in der Schaffung des Sabbat. Er steht für die Befreiung von der Alltagslast, die vollständige Harmonie zwischen den Menschen und dem Mensch zur Natur. Es gilt keine Zerstörung und keine Wiederherstellung hervorzurufen und der Mensch soll sich ganz mit sich selbst und seinem Wesen beschäftigen, z. B. in produktiver Tätigkeit oder persönlicher Bildung.

Im NT ist die Grundlage für das Sein die Bergpredigt als Manifest eines Sklavenaufstandes. Der sogenannte Text Q ist die älteste Überlieferung des Matthäus- und des Lukasevangeliums. Er zielt auf vollständige Befreiung vom Haben ab. Hierin wird Solidarität und Teilen in Anbetracht einer sich nähernden Katastrophe bzw. Apokalypse propagiert. Die geistigen Nachfolger dieser Idee sind vor allem die christlichen Mönchsorden und deren Auffassung von vita activa und vita contemplativa sowie die Ablehnung weltlicher Genüsse.

In der Theologie und Mystik Meister Eckarts wird sowohl die Existenzweise des Habens und die des Seins dezidiert untersucht. Eckart nähert sich der Existenzweise des Habens über eine negative Bestimmung in einer Abhandlung über die geistige Armut an. Ihm zufolge sei Askese und Bedürfnislosigkeit (Nichts wollen) als religiöse Ausübung ein eigennütziges und selbstsüchtiges Festhalten am Ich bezüglich der Gottgefälligkeit. Des Weiteren trügt die Tatsache dessen, was man an Wissen besitzt darüber hinweg, was man alles (noch) nicht weiß (Nichts wissen). Meister Eckhart warnt damit vor einer zu starken Bindung an das eigene Ich und das, was man besitzt oder zu besitzen meint, sei es Wissen, seien es Werke oder Fähigkeiten (Nichts haben). All jenes, was zum Objekt der Begierde wird, wird schlecht und blockiert die Selbstverwirklichung, das Ich wird dann in Ketten gelegt. Daher ist eine Einstellung bezüglich des Besitzes wichtiger als der faktische Besitz. In der positiven Bestimmung von Haben rückt das Sein in den Vordergrund: Nichts zu wollen bedeutet vollständiges Lossagen von Begierde. Nichts wissen meint, dass man vergessen muss, dass man nichts weiß; nicht aber was man weiß. Nichts haben bedeutet frei sein von Handlungen und Dingen, die nicht die eigenen sind im dem Sinne, dass sie von einer anderen Macht als der eigenen motiviert sind.


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