Erich Fromm: Haben oder Sein, Teil 2, 5/10

Menschen fürchten die Freiheit in gewisser Weise (hierzu schrieb Fromm ein ganzes Buch: Die Furcht vor der Freiheit (Escape from freedom)), da jede neue Entscheidung und Handlung die Gefahr des Scheiterns birgt. Hierbei handelt es sich um positive Freiheit, um die Freiheit zu tun. In der (negativen) Freiheit von beispielsweise Bedrohungen und Gefährdungen, also einer Sicherheit, die uns von einer höheren Instanz zugesichert wird, sind wir passiv. Sicherheit ist Ausdruck des Haben-Modus: Wir müssen nicht verlassen oder geben, was wir haben, alles bleibt wie es ist, nichts verändert sich für uns. Dieses Bleiben gibt uns das Gefühl von Sicherheit, ebenso wie Strukturen und Regeln. Sicherheit ist ein menschliches Grundbedürfnis. Insofern besteht hier wieder ein Spannungsfeld zwischen dem, was ein existentielles Haben ist und dem, was charakterliches Haben bedeutet, z. B. wenn wir uns Veränderungen in unserem Leben gegenüber verweigern oder mit Starrsinn und Sturheit keine Entscheidungs- und Handlungsalternativen akzeptieren und zulassen wollen, weder bei uns selbst, noch bei Menschen auf die wir Einfluss haben oder Autorität ausüben.

Der Seins-Modus bedeutet Unsicherheit, aber auch mehr schöpferisches Potential. Aus der Sicherheit des Habens heraus bewundern wir die Helden, die sich trauen, das Haben hinter sich zu lassen, bzw. es auf’s Spiel zu setzen. Helden sind idealisierte Figuren, in die die Kräfte und Fähigkeiten eines Jeden hineinprojiziert und auf eine höhere Stufe gehoben werden. Dies geschieht aus Unsicherheit und Angst über die eigenen Fähigkeiten und Stärken, aber auch aus dem verdrängten Wunsch aus den eigenen Routinen auszubrechen. Wir sehen uns selbst nicht als Helden.

Ein Mensch im Seins-Modus hat ein anderes Selbstbewusstsein. Er hat keine Angst, beraubt zu werden oder Angst vor dem Lebendigsein, da er es bereits ist (lebendig) und sich nicht über sein Haben, sondern sein Sein definiert. Hierzu kann man sich die Frage stellen: „Wer bin ich, wenn ich bin, was ich habe, und dann verliere, was ich habe?[1] Was bleibt, wenn wir alles verlieren und ganz auf uns selbst zurückgeworfen werden? Wenn wir hierüber eine Auskunft geben können oder zumindest eine vage Ahnung haben, können wir annehmen, schon etwas mehr im Seins-Modul zu leben. Dem eigenen Sein Ausdruck zu verleihen ist Teil der Charakterstruktur, auf welche man selbst Einfluss nehmen kann, sie ist selbstbestimmt. Dies erinnert auch an das Credo der Existentialisten: Der Mensch ist, was er aus sich macht – letztlich. Auch wenn wir von unserer Erziehung und zwischenmenschlichen Beziehungen geprägt sind. Fromm geht von der schöpferischen Kraft und Autonomie des Individuums aus, welche es unter friedlichen Lebensumständen stets zu entfalten in der Lage ist.

Wenn uns der Gedanke, nichts mehr zu haben, wenn wir alles verlieren, ängstigt, kann es sein, dass wir in ständiger Sorge sind um unseren Besitz – dann sind wir vom Haben abhängig. Dieses Festhalten an Dingen aus Angst und Unsicherheit sei allerdingt tückisch, denn man behält es nicht. Beim Sein verhalte sich dies anders. Fromm drückt dies als Paradox aus: „Während beim Haben das, was man hat, sich durch den Gebrauch verringert, nimmt das Sein durch die Praxis zu. (Der »brennende Dornbusch«, der sich nicht verzehrt, ist das biblische Symbol für dieses Paradox.) Die Kräfte der Vernunft, der Liebe, des künstlerischen und intellektuellen Schaffens – alle wesenseigenen Kräfte wachsen, indem man sie ausübt. Was man gibt, verliert man nicht, sondern im Gegenteil, man verliert, was man festhält.“[2]


[1]  Fromm, Erich: Haben oder Sein. Die seelischen Grundlagen einer neuen Gesellschaft. Übers. von Brigitte Stein. Überarb. von Rainer Funk. 23. Aufl. (2004), Deutscher Taschenbuch Verlag, München 1979. (Orig.: To Have or to Be? (1976)), S. 108.

[2] Fromm, Erich: Haben oder Sein. Die seelischen Grundlagen einer neuen Gesellschaft. Übers. von Brigitte Stein. Überarb. von Rainer Funk. 23. Aufl. (2004), Deutscher Taschenbuch Verlag, München 1979. (Orig.: To Have or to Be? (1976)), S. 109.

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