Erich Fromm: Haben oder Sein, Teil 2, 3/10

Über den Existenzmodus des Seins – Bezug zum Schein und wie wir Wirklichkeit konstruieren

Die Existenzweise des Seins ist auch in Abgrenzung zum Schein zu betrachten. Schein ist, wenn das eigene Verhalten nicht dem Charakter entspricht. Verhalten und Charakter werden von Fromm also getrennt betrachtet. Jemand kann sich nicht gemäß seinem Charakter verhalten, bzw. lässt sich vom Verhalten eines Menschen nicht auf seinen Charakter schließen, auch wenn uns dies häufig im Alltag geschieht und wir uns dann (Vor)Urteile bilden, deren Gültigkeit wir eigentlich nicht prüfen können, ohne die Person tatsächlich kennen zu lernen. In den seltensten Fällen geschieht dies jedoch, dass wir uns vom Charakter einer Person überzeugen. Das Verhalten eines Menschen kann aber auch seinen Seins-Modus reflektieren. Meistens handelt es sich um eine Maske, die einen äußeren Anschein einer Person vermittelt und die die Person auch gerne trägt, um sich auch selbst täuschen oder besser gefallen zu können. Der Seins-Charakter eines Menschen ist hingegen Wirklichkeit im Gegensatz zum Anschein, der durch die Maske und das Vorurteil gebildet werden. Eine Demaskierung könne mit Hilfe der Psychoanalyse Freunds geschehen. Nicht nur sei diese auf das Individuum, sondern auch auf den common sense anwendbar.

„Unsere bewußten Motivationen, Ideen und Überzeugungen sind eine Mischung aus falschen Informationen, Vorurteilen, irrationalen Leidenschaften, Rationalisierungen und Vorein-genommenheit, in der einige Brocken Wahrheit schwimmen, die uns die (freilich falsche) Gewißheit geben, daß die ganze Mischung real wahr sei. Unser Denkprozeß ist bestrebt, diesen ganzen Pfuhl voller Illusionen nach den Gesetzen der Logik und Plausibilität zu organisieren.“[1]

Ähnliche Gedanken finden sich bei Nietzsche und der Dekonstruktion. Wirklichkeit kann nicht ohne weiteres erkannt werden (sie ist chiffriert) und adäquat vom Schein unterschieden werden. Bewusst-sein als „gefährliches“ Wissen über uns selbst. Deswegen kommt es allzu oft zu Verdrängung. Eine starke These von Fromm lautet, dassdas Sein sich auf das Wirkliche bezieht. Zur Wirklichkeit (was immer Fromm damit meint) erlangt man nur, indem man die Oberfläche dieser durchdringt. Also den Schein und die Illusion entlarvt und zum Wesentlichen und dann zu so etwas wie einer Wahrheit gelangt. Eine solche Wahrheit wäre aber nicht lange gültig, denn folgt man Fromms Gedanken, dass ein authentisches menschliches Dasein durch Werden und Entwicklung des Charakters geschieht, so hängt das, was ein Individuum für wahr hält, davon ab, ob es die Wirklichkeit so nimmt, wie sie ihm zunächst erscheint oder, ob es bestrebt ist, den oberflächlichen Schein der Gegebenheiten zu hinterfragen. Wahrheit scheint also von der Perspektive und dem Grad abzuhängen aus der und dem heraus man sich selbst und die Welt zu untersuchen pflegt.


[1] Fromm, Erich: Haben oder Sein. Die seelischen Grundlagen einer neuen Gesellschaft. Übers. von Brigitte Stein. Überarb. von Rainer Funk. 23. Aufl. (2004), Deutscher Taschenbuch Verlag, München 1979. (Orig.: To Have or to Be? (1976)), S. 97.

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